Ketevan Giorgishvili Das georgische Versammlungsrecht im Schnittpunkt von Verfassungs- und Verwaltungsrecht
Kurzcharakteristik:
Nach der wohlerworbenen Unabhängigkeit strebt das Land Georgien schon zwei Jahrzehnte lang danach, sich vom postsowjetischen Staat zu einer rechtsstaatlichen Demokratie zu entwickeln. Für das Staats- und Verfassungsleben ist die Orientierung an westlichen Vorbildern und die Heranziehung von sog. best practices – insbesondere in Anbetracht des effektiven Schutzes der Menschenrechte – von besonderer Bedeutung. Diese Entwicklungslinie gilt auch für das gesetzgeberische Bemühen der Versammlungsfreiheit zu einem möglichst effektiven Umsetzungsraum zu verhelfen.
In der jüngsten Geschichte Georgiens hat die politische Bedeutung der Versammlungsfreiheit als einer der wichtigsten demokratischen Werte spürbar zugenommen. Die großen Demonstrationen der letzten Jahrzehnte haben dazu geführt, dass die rechtsstaatliche Funktionsweise des Staates auf die Probe gestellt wurde. Die Tatsache, dass staatliche Behörden ihr Gewaltmonopol unverhältnismäßig gegen Versammlungsteilnehmer ausübten, zog entsprechende politische und rechtliche Änderungen nach sich.
Das Forschungsprojekt zielt darauf, die Versammlungsfreiheit aus der georgischen Verfassung vom 24. August 1995 und deren einfachrechtliche Konkretisierung durch das georgische Gesetz “Über Versammlungen und Manifestationen“ vom 12. Juni 1997 zu untersuchen. Dabei ist die Prüfung der behördlichen Eingriffsnormen auf ihre hinreichende Bestimmtheit von besonderer Bedeutung. Die Gewährleistung der Versammlungsfreiheit nach dem georgischen Versammlungsgesetz wird im Lichte der Leitentscheidungen des georgischen Verfassungsgerichts veranschaulicht und weitere Anstöße zu der verfassungskonformen Anwendungspraxis der versammlungsrechtlichen Normen gegeben.
Die Arbeit bezweckt weiter, das georgische Versammlungsrecht einerseits im Lichte der Verwaltungsreform zu betrachten, die eine neue Dimension im Verhältnis von Staat zum Bürger geschaffen hat (neue Art und Weise von sog. policing); andererseits wird die wichtige Errungenschaft der Polizeireform in Georgien beleuchtet, die strenge Anforderungen an die Polizei als Verwaltungsbehörde bei der Abwehr von versammlungsspezifischen und allgemeinen Gefahren gestellt hat.
Die verschiedenen Fragestellungen, die unter anderem der praktischen Tätigkeit der Doktorandin beim Verfassungsgericht Georgiens und in der Agentur für Reformen des georgischen Innenministeriums sowie der wissenschaftlichen Tätigkeit an der Polizeiakademie Georgiens entstammen, werden mit Blick auf das deutsche Recht behandelt. Diese methodische Herangehensweise erklärt sich durch die dogmatischen Entlehnungen im georgischen Verwaltungsrecht aus dem deutschen Recht (gleiches gilt grundsätzlich auch für das georgische Polizeirecht, das eher noch in einer embryonalen Phase steckt).
Neben der rechtsvergleichenden Betrachtung der Rechtsmaterie anhand der deutschen Dogmatik, wird die Frage des Zusammenspiels der nationalen Rechtsnormen und europäischen Standards weiterbehandelt. Als Maßstab für die Auswertung von effektiver Gewährleistung des Grundrechts gelten die Europäische Konvention der Menschenrechte und die darauf basierende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Entsprechend werden die Lücken im georgischen Versammlungsrecht an Leitlinien gemessen, die als einheitliche europäische Standards in Gesichtspunkten von Venedig-Kommission des Europarates und ODIHR der OSZE erfasst sind. Dabei kommen diesen rechtlich unverbindlichen Empfehlungen mit Rücksicht auf die europäischen Integrationsprozesse Georgiens eine besondere Wirkungsqualität zu.
Das Dissertationsvorhaben wird mit dem Ziel verfolgt, die entsprechenden Empfehlungen für die Rechtspolitik zu erarbeiten. Dazu werden die behördlichen Befugnisnormen auf die eventuellen Fehlentwicklungen hin untersucht und die entscheidungsleitenden Direktiven für die Praxis hergeleitet. Bei Fehlen von etablierter Anwendungspraxis wird es den Rechtsanwender dazu verhelfen, vor jedem Einschreiten die angemessene Abwägung der kollidierenden Rechtsgüter vorzunehmen, unter anderem, wenn es um das übliche Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit geht.