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[This content is not available in "Englisch" yet] Christian Reichert - Die sukzessive Kodifizierung der Menschenrechte im Lichte der Kelsenschen Theorie des Völkerrechts

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Kurzcharakteristik: 

Mit seinem Hauptwerk, der Reinen Rechtslehre, begründete Hans Kelsen zu Beginn des 20. Jahrhundert eine Theorie des positiven Rechts, die – unter Ausschluss sämtlicher der Rechtswissenschaft fremden Elemente – die Frage zu beantworten versucht, was und wie Recht ist, nicht jedoch, wie es sein oder gemacht werden soll. Dabei widmete sich Kelsen unter anderem auch der Etablierung einer Theorie des Völkerrechts.

Im Sinne der Reinheit der Rechtswissenschaft stand Kelsen besonders dem seinerzeit wie heute die Völkerrechtspraxis weithin prägenden Begriff der staatlichen Souveränität kritisch gegenüber, da dieser moralisch-politische und soziologisch-psychologische mit rechtlichen Aspekten vermische. Kelsen sah den Staat als solchen als eine rein juristische Fiktion, die nichts anderes verkörpert als die Einheit eines Systems von Rechtsnormen. Im Lichte dieser sogenannten Identitätsthese wandte sich Kelsen gegen die Theorie des Dualismus, die eine strikte Trennung zwischen dem zum Völkerrecht gehörenden Normensystem einerseits und dem nationalen Recht andererseits vorsieht. So lehnte Kelsen insbesondere die These ab, das Völkerrecht regle ausschließlich das Verhalten zwischen Staaten und sei daher von innerstaatlichen Rechtsordnungen zu unterscheiden. Vielmehr, so argumentierte Kelsen, seien völkerrechtliche Regelungen letztlich darauf gerichtet, menschliches Verhalten, d.h. dasjenige der (Staats-)Bürger, zu regulieren. Entsprechende Normen würden dabei dem Staat als personifizierter Einheit einer Rechtsordnung zugerechnet, daher der Eindruck der Regelung staatlichen Verhaltens. Hieraus resultiere eine Verbindung oder Einheit zwischen Völkerrecht und nationalem Recht, die konkret in dieser Zurechnung an den Staat zum Ausdruck komme. Dieser monistischen Auffassung zufolge gehören damit sowohl das Völkerrecht als auch das nationale Recht zu einer einzigen, einheitlichen Rechtsordnung.

Ausgehend von der Annahme der Einheit des Rechts und der damit verbundenen Notwendigkeit einer logischen Struktur der Rechtssetzung greift Kelsen auf das Konzept der Delegation zurück, wonach jede Norm auf eine übergeordnete Norm zurückgeführt werden kann, auf deren Grundlage sie geschaffen wurde. Nach dieser Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung ist für Kelsen der hierarchische Aufbau der Rechtsordnung durch einen kontinuierlichen Prozess der Rechtsgestaltung gekennzeichnet: In Ergänzung zur Bestimmung der prozessualen Voraussetzungen für die Entstehung untergeordneter Normen wird die Norm zugleich im Rahmen ihrer Ableitung weiter inhaltlich konkretisiert. Dabei begründet nach Auffassung Kelsens die als transzendental-logische Voraussetzung gesetzte Grundnorm letztlich die normative Bedeutung sämtlicher die Rechtsordnung konstituierenden Tatbestände. Hieraus leitet sich das Völkergewohnheitsrecht ab, das wiederum aufgrund der völkergewohnheitsrechtlichen Norm pacta sunt servanda die Grundlage für das partikuläre, d.h. lediglich Ratifikationsstaaten bindende Vertragsrecht ist, das schließlich die Geltung von Entscheidungen internationaler Gerichte sowie Organisationen begründet.

Betrachtet man die gegenwärtige Völkerrechtspraxis und vergleicht diese mit dem rechtstheoretischen Ansatz Kelsens, so zeigt sich eine Umkehr der hierarchischen Stufen. Im Zuge der Intensivierung der Verrechtlichung in Gestalt zunehmender Kodifikation in sämtlichen Bereichen des Völkerrechts wurde – primär unter Berufung auf das Konzept der staatlichen Souveränität – der Zustimmung der Staaten zur Begründung rechtlicher Verpflichtungen eine wesentliche Bedeutung beigemessen. Diese äußert sich in der Praxis vordergründig durch den Akt der Unterzeichnung und Ratifizierung bilateraler bzw. multilateraler völkerrechtlicher Verträge. Trotz des im kontemporären Völkerrecht geltenden Grundsatzes, es bestehe keine Hierarchie innerhalb der Rechtsquellen des Völkerrechts, führt die vermehrte, respektive bevorzugte Rechtssetzung durch den Abschluss völkerrechtlicher Verträge zu einer zumindest faktischen bzw. „informellen“ Hierarchie, mit der Folge einer Überordnung der Rechtsquelle der Verträge über das Völkergewohnheitsrecht.

Besonders offensichtlich tritt diese Stufenordnung im Hinblick auf das Rechtssetzungsverfahren im Bereich der Menschenrechte zutage. Während sich die Staatengemeinschaft zunächst meist auf bloße – eher allgemein gehaltene – politische Erklärungen, welchen nach ausdrücklich erklärtem Willen der beteiligten Staaten keine rechtlich verbindliche Wirkung zukommen soll, zu einigen vermag, dienen derartige Erklärungen als Grundlage für den Abschluss verbindlicher, inhaltlich spezifizierter Menschenrechtskonventionen. Im weiteren Verlauf erfolgt seitens der Vertragsstaaten zumeist durch die Geltendmachung von Vorbehalten eine weitere Konkretisierung der sich aus der Konvention ergebenden rechtlichen Verpflichtungen. Dieses an dem Konzept der staatlichen Souveränität orientierte Rechtssetzungsverfahren offenbart nicht nur einen Widerspruch zwischen Form und Funktion der Menschenrechte, sondern steht vielmehr auch im Gegensatz zu dem von Kelsen etablierten rechtstheoretischen Ansatz. Sowohl die Umkehrung der Stufenordnung in Theorie und Praxis als auch der hierdurch ermöglichte Einfluss der Staatssouveränität, mithin primär politischer Erwägungen, zur Beschränkung rechtlicher Verpflichtungen lassen sich nicht mit der Kelsenschen Reinen Rechtslehre vereinbaren.

Vor diesem Hintergrund stellt das vorliegende Promotionsvorhaben die Frage auf, ob und inwieweit sich die völkerrechtliche Praxis und die von Kelsen begründete Theorie in Einklang bringen lassen. Als möglicher Ansatz kommt die Hypothese in Betracht, wonach rein politischen Erklärungen der Charakter von Völkergewohnheitsrecht anhaften könnte. Anhand einer Analyse der sukzessiven Kodifizierung der Menschenrechte soll dieser Frage nachgegangen werden. Untersucht wird hierbei, ob politische Erklärungen als „Vorstufe“ der Kodifizierung tatsächlich nicht als bloße Verschriftlichung bereits existierender Normen des Völkergewohnheitsrechts angesehen werden könnten, mit der Folge, dass etwa Regelungen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als Normen des Völkergewohnheitsrechts Rechtsverbindlichkeit besitzen. Diesbezüglich hat jedoch – auch unter Zugrundelegung des Kelsenschen rechtstheoretischen Ansatzes – eine umfassende und kritische Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen der Entstehung von Völkergewohnheitsrecht zu erfolgen.