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Professorin Angelika Nußberger am Collège de France

Frau Prof. Dr. DDr. h.c. Angelika Nußberger wurde als Gastprofessorin von Prof. Samantha Besson an das Collège de France eingeladen.

Dort hielt Sie insgesamt vier Vorträge zu dem Thema: "Die beiden Europas und ihre Verfassungstraditionen: Eine Geschichte vermeidbarer Missverständnisse oder unüberbrückbarer Unterschiede?" (Original: Les deux Europes et leurs traditions constitutionnelles : une histoire de malentendus évitables ou de différences insurmontables?) Eine schriftliche Publikation der Vorträge ist geplant.

In ihrem ersten Vortrag ging Prof. Nußberger auf das Thema "Unvollendeter Dialog zwischen den Verfassungsideen in Ost- und Westeuropa" ein.  (Orig:Dialogue inachevé entre les idées constitutionnelles en Europe de l'Est et en Europe de l'Ouest):

Über die Entwicklung der Verfassungsideen in Europa gibt es nicht nur eine, sondern zwei Geschichten zu erzählen: eine für Ost- und eine für Westeuropa. Seit der Aufklärung sah sich der Westen des Kontinents, insbesondere Frankreich, als treibende Kraft hinter den progressiven Ideen über Staat und Recht, während der Osten eher zurückhaltend zu sein schien. Obwohl die polnische Verfassung nur wenige Monate vor der französischen Verfassung von 1791 verfasst wurde, galt sie als veraltet, während die zweite als Erfolgsmodell rezipiert wurde. Der Staat, dem sie einen Rahmen gab, war zudem mit der expansionistischen Politik seiner Nachbarn konfrontiert. Einige Staaten im Osten, wie das Russische Reich, waren keineswegs bereit, die Ideen der Menschenrechte und des Konstitutionalismus gedeihen zu lassen, sondern neigten sogar dazu, sie sofort in ihr Gegenteil zu verkehren. Diese historischen Tatsachen können auf verschiedene Weise interpretiert werden: entweder als Illustration eines Europas der zwei Geschwindigkeiten oder, im Anschluss an Samuel Huntington oder Jenö Szücz, als Ausdruck unterschiedlicher rechtlicher Erbschaften, die nicht zu einem gemeinsamen Erbe vereint werden können. Sehen Sie hier den gesamten ersten Vortrag (Französisch)

Das Thema des zweiten Vortrags war: "Das falsche Versprechen: Die 1990er Jahre und die Illusion eines gemeinsamen Verfassungserbes" (Orig: La fausse promesse : les années 1990 et l'illusion d'un héritage constitutionnel commun)

Der Fall der Berliner Mauer schuf die Illusion einer Wiedervereinigung dessen, was zusammengehörte, und einer Überwindung der Teilung, die zwischen Ost- und Westeuropa eingeführt worden war. In allen Verfassungen der mittel- und osteuropäischen Staaten triumphierten die Ideen des Konstitutionalismus westlicher Prägung. Überall beeilte man sich, das gemeinsame Verfassungserbe zu kodifizieren. Diese Übernahme abstrakter Begriffe verbarg jedoch eine ganz andere Realität und eine rasche Neubewertung von Werten, insbesondere von "Rechtsstaatlichkeit" und "Demokratie". Rückblickend muss man sich fragen, ob die Vorstellung einer gemeinsamen gesamteuropäischen Tradition eine Illusion war oder ob es die historischen Umstände am Ende des Jahrhunderts waren, die zu einer Vielzahl von Missverständnissen führten. Sehen Sie hier den gesamten zweiten Vortrag (Französisch)

In der dritten Vortrag behandelte Prof. Nußberger das Thema: "Divergenzen und Kontroversen über die Rolle eines europäischen Staates im 21. Jahrhundert" (Orig:Les divergences et controverses concernant le rôle d'un État européen au XXIᵉ siècle)

Ob die mittel- und osteuropäischen Staaten nun Mitglieder der Europäischen Union sind oder nur dem Europarat als internationaler Organisation angehören, die entscheidenden Schwierigkeiten, mit denen sie konfrontiert sind, sind so unterschiedlich, dass man sich heute fragen muss, ob es überhaupt noch gemeinsame "europäische" Werte gibt. Dabei geht es nicht nur um einen einfachen Gegensatz zwischen konservativen und progressiven Einstellungen, sondern vielmehr um Unterschiede rund um die grundlegende Auffassung von der Beziehung zwischen Individuum und Staat sowie der Rolle des Staates im 21. Jahrhundert. Während im Westen Pluralismus und Offenheit weit verbreitet sind, wird der Staat im Osten als Schutzraum für Traditionen betrachtet, die bewahrt, aber auch gegen die durch die Globalisierung verursachten Veränderungen verteidigt werden müssen. Immer wieder kommt es zu Konflikten über Themen wie die LGBTQ-Bewegung oder die Aufnahme von Flüchtlingen. Nach und nach führen diese Konflikte zu weiteren Konflikten, in denen es um substanzielle Fragen wie die Unabhängigkeit der Justiz und die Gründe für die Opposition gegen eine Regierungsmehrheit geht. Sind diese Antagonismen Ausdruck eines Ost-West-Gefälles oder stellen sie Trennungsfaktoren dar, die in allen europäischen Gesellschaften mehr oder weniger sichtbar existieren? Sehen Sie hier den gesamten dritten Vortrag (Französisch)

In ihrem vierten und letzten Vortrag besprach Prof. Nußberger die Frage "Die beiden Europas: Zerbrechlicher, fragmentarischer oder falscher Zusammenhalt?" (Orig: Les deux Europes : cohésion fragile, fragmentaire ou fausse?)

Die Beschäftigung mit dem "Erbe" Europas muss schließlich dazu führen, dass man in die Zukunft blickt und gleichzeitig über Konvergenzen und das, was gemeinsam werden kann, sowie über deren Umsetzung nachdenkt. Dabei geht es vor allem um den Beitrag, den das konstitutionelle Erbe Europas leistet. Es soll offensichtliche Kriterien liefern, um zu unterscheiden, was konstitutiv für einen "Rechtsstaat" oder eine "Demokratie" ist, einerseits, und Systeme, in denen diese Werte ihre Bedeutung verloren haben, andererseits. Diese europäischen Ideen können als ein fragiles Erbe betrachtet werden, aber eindeutig als ein gemeinsames Erbe. Es lässt sich auch eine gewisse Fragmentierung erkennen, die zwar teilweise überwunden werden kann, aber als solche akzeptiert werden muss. Schließlich kann die Vorstellung eines gemeinsamen Verständnisses von Staat und Gesellschaft in Europa als falsch beurteilt werden. Am Ende dieser vier Vorträge sollten Schlussfolgerungen aus der entwickelten Analyse gezogen und einige Vorschläge und Leitlinien für die politischen Entscheidungsträger in der Europäischen Union und im Europarat artikuliert werden. Sehen Sie hier den gesamten vierten Vortrag (Französisch)