Die Geschlechtergerechtigkeit in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
In Deutschland, aber auch ganz Europa, ist jedoch die anhaltende Diskriminierung von Frauen, mittelbarer und unmittelbarer Natur, in öffentlichen und privaten Bereichen, ein anhaltendes Problem[1]. Der EGMR propagiert stetig, dass die Herstellung der Geschlechtergerechtigkeit eines der Hauptziele der Mitgliedsstaaten des Europarates sei[2]; trotzdem spielen die Fälle, in denen der Gerichtshof darüber entscheiden musste, eine verhältnismäßig untergeordnete Rolle. Von allen von 1959 bis 2019 gefällten Entscheidungen des Gerichtshofs wurde in nur etwas mehr als 1,3% davon ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot, Art. 14 EMRK, festgestellt[3]. Fälle, die wiederum aufgrund geschlechtsspezifischer Diskriminierung entschieden wurden, machten nur einen Bruchteil aus: Bis zum Jahr 2018 wurde in lediglich 34 Fällen eine solche Form der Diskriminierung festgestellt, also in nur 0,001% aller entschiedenen Fälle[4]. Dabei fällt auf, dass selbst in diesen wenigen Fällen häufig Männer die Beschwerdeführer waren und die Fälle familienrechtlichen Fragestellungen betrafen, wie dem Umgangsrecht, Erziehungsurlaub oder Nachzugsrecht der Väter[5].
In dieser Dissertation sollen die Ursachen für diese Rechtsprechungspraxis erforscht und Möglichkeiten aufgezeigt werden, diese auszubauen, um so die Geschlechtergerechtigkeit in den Mitgliedsstaaten des Europarats zu fördern. Hierzu wird exemplarisch die Rechtsprechung des EGMR zu drei Themengebiete betrachtet: erstens, Fälle zur häuslichen Gewalt, zweitens, Entscheidungen zu religiösen Kleidungsvorschriften sowie, drittens, die Rechtsprechung zu vermögensrechtlichen Ansprüchen mit geschlechtsspezifischem Einschlag. Dabei werden diese Fälle dahingehend betrachtet, ob und wie die Berücksichtigung des Art. 14 EMRK die Urteile beeinflusst hat. Insbesondere in den Fällen, in denen die Berücksichtigung von Art. 14 EMRK unterlassen wurde, obwohl ein geschlechtsdiskriminierender Sachverhalt vorlag, ist zu analysieren, wieso diese Entscheidungen so getroffen wurden und ob und wie der Einfluss der Norm sich auf das Urteil ausgewirkt hätte, wäre sie angewandt worden. Hierzu wird dann ein Rechtsvergleich zu ähnlich gelagerten Fällen des BVerfG angestellt, in denen die Lösung über Art. 3 GG, der die Gleichheit vor dem Gesetz statuiert, erfolgte. Ebenfalls werden Fälle des EuGH verglichen, die diese Themenkomplexe behandelten. Auf diese Art und Weise können Unterschiede festgestellt, Defizite in der Rechtsprechung aufgezeigt und alternative Lösungswege herausgearbeitet werden. Somit soll sodann aufgrund der vorangegangenen Ergebnisse eine kritische Auseinandersetzung mit den sich aus der Rechtsprechung zu Art. 14 EMRK ergebenen Konsequenzen zur Durchsetzung von Geschlechtergerechtigkeit erfolgen und ein Ausblick auf weitere Problemfelder, die sich daraus ergeben, ermöglicht werden.
[1] Siehe beispielsweise Statistiken zu politischer Partizipation (https://data.oecd.org/inequality/women-in-politics.htm) , Gewalt gegen Frauen (https://data.oecd.org/inequality/violence-against-women.htm) oder dem Gender Wage Gap (https://data.oecd.org/earnwage/gender-wage-gap.htm)
[2] Konstantin Markin v. Russland, 30078/06, 2012, Rn. 127; Leyla Sahin v. Türkei, 44774/98, 2005, Rn. 115; Abdulaziz, Cabales und Balkandali v. Vereinigtes Königreich, 9214/80; 9473/81; 9474/81, 1985, Rn. 78; Schuler-Zgraggen v. Schweiz, 14518/89, 1993, Rn. 67; Burghartz v. Schweiz, 16213/90, 1994, Rn. 27; Van Raalte v. Niederlande, 20060/92, 1997, Rn. 39; Petrovic v. Österreich, 40485/08, 1998, Rn. 37
[3] Gesamtzahl der Entscheidungen 1959-2019: 22.535; davon festgestellte Verletzung des Art. 14 EMRK: 294, EGMR, Violations by Article and State, online: https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_violation_1959_2019_ENG.pdf (zuletzt aufgerufen am 17.01.2021).
[4] McIntosh Sundstrom/Sperling/Sayoglu, Courting Gender Justice, S. 3.
[5] Grabenwarter/Pabel, 3. Teil, 2. Kapitel, § 26, Rn. 17-19; Radacic, in: EJIL (2008), 19, 841, 844.
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